GeSCHICHTEN von der Tagung

03.01.2023 Lea Kopner und Anna Lammers

Der Tagebau der betriebsfläche "Hambach" greift mehrere Hundert Meter tief in in den Boden ein (Foto: Altertumskommission/A. Lammers).

Unsere Mitarbeiterinnen Lea und Anna besuchten die Konferenz im Rheinischen Revier

An dieser Stelle berichten wir regelmäßig über die Archäologie Westfalen-Lippes. Doch was treiben eigentlich unsere Nachbarn im Rheinland? Lea und Anna von der AKo haben bei einer Konferenz im Rheinischen Revier Einblicke in aktuelle Herausforderungen der linksrheinischen Archäologie bekommen.

Archäologie arbeitet in Schichten: Schicht für Schicht legt sie die Objekte der Menschheitsgeschichte im Boden frei. Im metaphorischen Sinne hat sich nun vom 23. bis 25.10.2022 die Tagung „geSCHICHTEN Rheinisches Revier“ des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte in der Abtei Brauweiler in Pulheim den „Schichten“ des Strukturwandels im rheinischen Braunkohlerevier gewidmet. Zentrales Thema war, wie der Strukturwandel, den die Initiator:innen explizit als kulturelle Herausforderung sehen, in den kommenden Jahren vor dem Hintergrund des Braunkohleausstiegs sinnvoll gestaltet werden kann. Die Tagung war eine Auftakt-Veranstaltung für die kommenden zwei Jahre, in denen das gleichnamige Projekt eine Schnittstelle für Kultur-Akteur:innen bilden und ein Netzwerk aufbauen möchte. Das Herzstück soll eine multifunktionale und partizipative Homepage sein, um Sichtbarkeit und Dialog zu erleichtern – ein expliziter Bedarf, den die Kulturszene formuliert hat.

Das Rheinische Revier liegt in der Niederrheinischen Bucht zwischen Bonn, Mönchengladbach und Aachen und stellt das größte Braunkohlevorkommen Europas dar. Seit dem 19. Jahrhundert wird hier im Tagebau Braunkohle abgebaut, heutzutage durch den Energiekonzern RWE (vormals Rheinbraun AG), der bis zum Kohleausstieg 2030 Kohle für die Verstromung fördern wird. Die gewonnene Energie war zweifellos eine Grundlage des Wohlstandes und Fortschritts im Rheinland. Die Förderung geht jedoch mit massiven Umwelteingriffen einher, die sich auf Natur und Bevölkerung auswirken. Der Boden ist im Hambacher Tagebau aktuell bis in eine Tiefe von mehr als 400 Metern abgebaggert. Im gesamten Revier wurden rund 80 Dorfgemeinschaften umgesiedelt, weil die alten Siedlungsflächen dem Bagger weichen mussten. Lokale Proteste gegen den Braunkohletagebau gibt es bereits seit den 1950er-Jahren. Infolge der Klimabewegung der vergangenen Jahre erhielt das Rheinische Revier überregionale Beachtung, nicht zuletzt wegen der Besetzung des Hambacher Waldes durch Aktivist:innen. Dieses komplexe Gefüge an Themen und Akteur:innen ist Teil des Resonanzkörpers des Tagebaus und damit des Strukturwandels.

Der gerodete Hambacher Forst im Herbst 2022 (Foto: Altertumskommission/A. Lammers).

Die Tagung begann am Sonntagnachmittag mit einer Exkursion zu einem Aussichtspunkt am Hambacher „Loch“, dem größten der drei aktiven rheinischen Tagebaue. Ein Gefühl für die enorme Größe des ausgebaggerten Areals bekamen wir nur dank einiger normalgroßer Baustellenfahrzeuge in der Fläche, die wir Miniaturfahrzeuge wirkten. Es folgten weitere Stationen, die einen Einblick in das kulturelle Erbe vermittelten. Der Besuch einer archäologischen Grabung im gerodeten Hambacher Wald nahe des zur Abbaggerung geräumten Ortes Manheim zeigte die massive Zerstörung durch den Tagebau. Neben Landschaft und Wohnraum betrifft diese Zerstörung auch die Archäologie: Nur rund 5% der Bodendenkmäler, die durch die Braunkohlegewinnung freigelegt werden, werden archäologisch erfasst. Untersucht werden noch weniger und dann nur in kurzen Rettungskampagnen, denn der Bagger kommt täglich näher. Manheim selbst existiert nur noch als Geisterstadt, auch die alte A 61 wird sich selbst überlassen und verfällt. Die Landschaft wirkt wie nach einem Atomschlag. Immer im Hintergrund: Die Marslandschaft mit den gigantischen Baggern. Das Gesehene bot uns „Outsidern“ eine gute Grundlage, um die Vortragsinhalte der folgenden Tage einordnen und bewerten zu können.

 

Archäologische Rettungsgrabung (Foto: Altertumskommission/L. Kopner).

Nach diesem bewegenden Auftakt folgte ein zweitätiges Tagungsprogramm, das angenehm abwechslungsreich gestaltet war und verschiedenste Formate beinhaltete. Auch das Publikum war vielseitig aufgestellt, unter den Teilnehmenden befanden sich Archivare, Judaistinnen, Historiker, Sozialanthropologinnen, Kulturpädagogen, Landschaftsplanerinnen, Künstler und Vertreter:innen vieler weiterer Disziplinen. Die eingeladenen Vertreter von RWE und der „Zukunftsagentur Rheinisches Revier“ pochten zwar auf Austausch und Kooperation mit der Kulturszene, blieben in ihren Aussagen jedoch leider sehr distanziert.

Die Archäologie war gleich mit mehreren Beiträgen vertreten. So gab Kerstin Schierhold einen Einblick in die Anfänge der anthropogenen Landschaftsveränderung der linksrheinischen Lössgebiete im Neolithikum. Dieser erste Eingriff in die Landschaft markiert den Beginn des Anthropozäns im Rheinland: Das Zeitalter, in dem sich der Mensch irreversibel in die Erde einschreibt, indem er sie geologisch, klimatisch und biologisch verändert und das mit dem Braunkohleabbau bis heute mit starken Landschaftsveränderungen einhergeht. Ralf Liptau und Rasmus Radach vom LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland stellten hingegen ihr industriedenkmalpflegerisches Erfassungsprojekt zur Braunkohle im Rheinischen Revier vor. Außerdem wurden aktuelle Forschungen des LVR-Amts für Bodendenkmalpflege im Rheinland und des LVR-LandesMuseum Bonn präsentiert.

Die Kolleg:innen des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte in der Abtei Brauweiler in Pulheim begrüßen zur Tagung (Foto: Altertumskommission/A. Lammers).

Der Strukturwandel ist ein stetig fließender Prozess, der im besten Fall Potenziale in alle Richtungen offenbart, jedoch auch große Überforderung und Orientierungslosigkeit bedeuten kann. Ein Beitrag von Heidi Pinkepank (INIK Institut für neue Industriekultur) über den bereits 10-jährigen Transformationsprozess des Tagebaureviers in der Lausitz offenbarte beispielsweise die Kluft zwischen Zielen und Tatsachen des dortigen Strukturwandels.

Der breite Fokus des Tagungsprogramms ließ diverse Transformationsprozesse des Rheinischen Reviers seit Beginn der Besiedlung in der Jungsteinzeit erkennen und somit umfassend und aus vielen Perspektiven einordnen. Das aktuelle Geschehen als Teil einer großen Entwicklung zu sehen und entsprechende Erinnerungskulturen zu erfassen, kann sicher ein Potenzial des „geSCHICHTEN“-Projekts sein.

Die Rolle der Kultur wurde in der Abschlussdiskussion vor allem in einer „heilenden“ Funktion aufgerufen. Sie könne helfen, die massiven und überwiegend als negativ empfundenen Veränderungen des unmittelbaren Lebensraums zu bewältigen. So führten Kulturprojekte beispielsweise mitunter zur Bildung von Gemeinschaften an neuen Siedlungsorten. Ein zentraler Diskurs der Veranstaltung waren daher die verschiedenen Interpretationen des Kulturbegriffs, die aufeinandertrafen: Von „Kultur“ als ausschließlicher Bezeichnung für Einrichtungen einer sogenannten Hochkultur wie Opernhäusern und Kunstmuseen distanzierten sich die meisten Teilnehmenden, aber ob Kultur genauer einzugrenzen sei als „Alles Menschengemachte“, wurde in vielen Vorträgen diskutiert. Mehr Einigkeit herrschte hingegen in Bezug auf die Rolle der Kultur im Strukturwandel: Sie diene der kollektiven und individuellen Verortung der Menschen in ihrem Raum, in der Geschichte, im Alltag. Somit wurde Kultur als zentrales „Instrument“ aufgefasst, das Menschen miteinander und mit ihrem Lebensraum verbinden und mit der Geschichte dieses Raums befrieden kann. Im Falle des Rheinischen Reviers sind das die massiven Schäden, den dauerhaft sichtbaren, und ökologisch, historisch sowie sozial nicht kompensierbaren Eingriffen durch die Kohleförderung.

Abschlussdiskussion der Tagung (Foto:Altertumskommission/A. Lammers).

Die massiven Löcher im Boden durch den Tagebau sind Teil solcher Spuren der Menschheit, die das „Anthropozän“ markieren. Vor allem mit dem Bewusstwerden der Klimaveränderung im globalen Ausmaß hat sich auch im rheinischen Braunkohlerevier eine große Protestbewegung gegen den Tagebau formiert. Einspruch gegen die erzwungenen Umsiedlungen der Bürger:innen gab es bereits in den 1950er Jahren. Die Verluste von Kulturgütern, Denkmalen und archäologischen Stätten sind ebenfalls Gegenstände von Protesten. Dieses komplexe Gefüge an Themen und Akteur:innen ist Teil des Resonanzkörpers des Tagebaus und damit heute Teil des Strukturwandels. 

Die Tagung gab uns einen ersten Eindruck davon, wie kompliziert der Strukturwandel sich im Einzelnen gestalten wird. Zukünftig werden jedoch noch viele Fragen zu klären sein, etwa welche Player diesen Prozess mit welchem Einsatz gestalten werden. Nicht zuletzt ist die Rolle der Archäologie als Wissenschaft von den materiellen Zeugnissen der Menschheit ein spannender offener Punkt. Die Tagung in Pulheim hat bereits einen kulturellen Beitrag zum Strukturwandel des Rheinischen Reviers geleistet und uns einen Einblick in ein gesellschaftspolitisch hochaktuelles Thema geboten, in dem die Archäologie ihre Aktualität und Relevanz ganz unmittelbar zeigen kann.

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Karte des "Rheinischen Reviers" (Grundlage: Geobasis DE/BKG 2020; Kartographie: LVR-ILR, Juni 2021).